Johannes 10
1. Der Hirte führt seine Schafe aus dem Pferch hinaus – Verse 1-6
Verse 1-3
Die Schafherde als Bild des Volkes Gottes stammt aus Hesekiel 34 und ist ein wichtiger Teil der Lehre Jesu über seine mächtige Fürsorge für die Seinen. Hirten führten damals tagsüber ihre Schafe auf die Weide. Am Abend brachten sie sie in einen umzäunten Pferch. Hier waren sie vor Dieben und Raubtieren sicher. Ein Hirte blieb als Türhüter die ganze Nacht bei der Herde und bewachte sie. Am Morgen kamen die anderen Hirten wieder zurück und jeder holte seine Schafe ab. Der Türhüter kannte jeden Hirten und ließ ihn herein. Jeder Hirte rief mit dem ihm eigenen Ruf seine Schafe, und die folgten seiner Stimme, und er führte sie aus dem Pferch (wörtlich: dem „Hof der Schafe“) wieder hinaus auf die Weide.
Was ist Aufgabe des Hirten? - Für die nötige Weide zu sorgen. Die Herde zu führen. Manche Hirten wollen heute gar nicht mehr führen, sondern sind für die „Selbstbestimmung“ der Schafe. - Lassen wir ihn seine Arbeit tun?
Was ist die Aufgabe der Schafe? - Dem Hirten zu vertrauen und ihm zu folgen, d.h. zu gehorchen. Viele Schafe meinen heute aber, ein Recht zu haben, ihre Weide selbst bestimmen zu dürfen. Tun wir das, oder gehorchen wir unseren Führern? (Hebräer 13,17)
Worauf weist Jesus Seine Jünger zuerst hin? - Wer ein echter Hirte und wer ein falscher Hirte ist. Diese nennt Er Diebe und Räuber.
Woran sind echte Hirten zu erkennen? - Dass sie auf dem rechten Wege zur Herde kommen.
Was ist der rechte Weg? - Was war für Israeliten damals die maßgebliche Richtschnur? Der Weg, den die Heilige Schrift beschreibt. Der rechte Weg war derjenige, den Mose und die Propheten vorhergesagt hatten (den Ort seiner Geburt - Micha 5,1; die Art seiner Geburt - Jesaja 7,14).
Den echten guten Hirten konnte man damals daran erkennen, dass er auf dem normalen Weg, d.h. durch die Tür zu den Schafen kam.
Aber nicht nur der Herr war durch diese Tür gekommen. Auch die nach Ihm kommenden Hirten, die Ihm gefolgt und von Ihm gelehrt worden waren, also die Jünger Jesu und späteren Apostel des Herrn, kamen auf dem in der Schrift vorausgesagten Weg. Damit autorisierte der Herr vor dem Volk die Apostel als wahre Hirten und verwies das Volk an die Männer, die nach Seinem Weggang das Volk lehren würden.
Welche besonderen Eigenschaften werden in Vers 3 den Schafen zugeschrieben? - Sie sind Seine Schafe und hören bzw. erkennen deshalb die Stimme ihres Hirten.
Der „Hof der Schafe“ hielt die Schafe während der Nacht zusammen, der „Zaun“ schützte sie vor Feinden und unüberlegtem Davonlaufen. So war Israel durch das Gesetz eingeschlossen, d.h. von den Nationen abgesondert und vor deren Sünden geschützt und verwahrt bis auf den Tag, an dem der Hirte Israels (Psalm 80,2) zu ihnen kam. Darauf verweist Paulus im Galaterbrief, wenn er sagt: „Bevor aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahrt, eingeschlossen auf den Glauben hin, der offenbart werden sollte“ (Galater 3,23).
Der Hüter Israels (der Vater im Himmel) sorgte dafür, dass der Sohn Einlass bei Seinem Volk fand und Er ist es noch heute, der jedes Mal das Herz auftut, wenn ein Mensch das Wort Christi und damit Christus selbst aufnimmt (Apostelgeschichte 16,14). Als der Herr in das Seine kam, nahmen die Seinen ihn nicht an (1,11). Aber da waren Einzelne, die nahmen Ihn an (1,12+13). An Pfingsten hörten „dreitausend Seelen“ durch die Predigt der Apostel Seine Stimme und wurden von Ihm Seiner Herde hinzugetan (Apostelgeschichte 2,41+47). Das waren nur wenige aus der großen Menge von Schafen, die zum Volk Israel gehörten; Paulus sagt von diesen: „So besteht nun … in der jetzigen Zeit ein Überrest nach Auswahl der Gnade“ (Römer 11,5).
Was bedeutet es, dass Jesus „Seine Schafe“ rief? - Er rief also nicht ganz Israel, sondern nur „Seine Schafe“.
Sechs Mal wird in diesem Kapitel gesagt, dass die Schafe dem Herrn gehören (Verse 3+4+14+16+26+27).
Wie wurden die Schafe „Seine Schafe“? - Weil der Vater sie Ihm gegeben hat (Vers 29).
Wozu hat der Vater sie dem Sohn gegeben? - Er hat sie dem Sohn gegeben, damit Er sie rette.
Wie sollte das geschehen? - Indem Er für sie stirbt (Vers 11), sie ruft (Vers 3), führt (Vers 27), bewahrt (Vers 28) und vollendet (17,24). Davon hatte Jesus in der Synagoge von Kapernaum bereits gesprochen: „Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen“ (6,37).
Er war nicht gekommen, um Israel zu reformieren. Er war kein alttestamentlicher Prophet, der das Volk lediglich zum Gesetz zurückrief (Jesaja 8,20). Er war gekommen, um das Gesetz zu erfüllen; und Er war gekommen, um aus Israel einen Überrest nach Wahl der Gnade (Römer 11,5) herauszuführen.
Hier sagt Er zunächst nur, dass Er die Schafe aus der Enge des Hofes auf die weite Weide herausführt (Vers 9). Was Er damit meinte, verstanden auch die Jünger erst später.
Verse 4-6
Von wo wollte Jesus seine Schafe herausführen? - Aus dem damaligen Judentum, d.h. aus der Umzäunung des Gesetzes.
Was war die einzige Sicherheit für die Schafe? - Die Autorität des guten Hirten. Die Schafe sollten es lernen, allein Seinem Wort zu folgen, nicht mehr irgendwelchen Geboten und Vorschriften.
Wir müssen die volle Tragweite dieser Aussage realisieren. Der Hirte, also der Herr Jesus, würde „alle“ Seine Schafe aus dem Pferch des Judentums herausführen. Davon berichtet die Apostelgeschichte.
Kein einziges Schaf würde fehlen. Er selbst „geht (dabei) vor ihnen her“. Er überlässt sie nicht sich selbst. Jeden Schritt, den irgendeines Seiner Schafe tut, hat Er vor ihnen getan. Jeden Weg, den sie gehen, ist Er selbst zuerst gegangen. Er verlangt von den Seinen nie etwas, was Er nicht selbst ausgestanden und durchlitten hat. Er treibt sie nicht vor sich her, sondern Er geht ihnen voran; und wo auch immer sie unterwegs hingelangen, sehen wir Seine Fußspuren (1. Petrus 2,21).
Kennst du die Stimme des guten Hirten? - Ist dir die Stimme des guten Hirten in der Stille und im Hören auf sein Wort so vertraut geworden, dass du sie auch in der Hektik und dem Lärm des Alltags noch hören kannst? - Lärm macht taub! Andauernd den Stimmen der Welt ausgesetzt zu sein, macht uns taub für Gott und unseren Nächsten. - Wir sind stets Schüler derer, auf die wir hören (Jesaja 50,4b) - Echte Jünger Jesu hören Seine Stimme und gehorchen Ihm!
Woran erkennt man die Stimme des guten Hirten? - Dass sie stets mit seinem geschriebenen Wort übereinstimmt. Keiner subjektiv wahrgenommenen Stimme ist zu trauen, wenn sie nicht mit dem Wort Gottes übereinstimmt.
„Die Schafe folgen Ihm, weil sie Seine Stimme kennen“. Nur „Seine eigenen Schafe“ kennen Seine Stimme. Die Juden glaubten nicht an Ihn, weil sie nicht von Seinen Schafen waren (Vers 26), und sie hörten Seine Stimme nicht, weil sie „nicht aus Gott“ (8,47) und nicht „aus der Wahrheit“ (18,37) waren. Seine Schafe hingegen hören Seine Stimme, und sie folgen Ihm, und Er gibt ihnen ewiges Leben (Verse 27+28). Dem Fremden folgen Seine Schafe nicht, „weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen“. Der Blindgeborene hatte die Stimme Seines Hirten gehört, und darum folgte er nicht den Pharisäern, sie mochten ihn noch so locken oder ihm drohen. Das bedeutet, dass die Schafe Christi nicht jede falsche und verführerische Stimme kennen müssen; sie müssen nur die Stimme des guten Hirten kennen. Das genügt, um sich jeder unbekannten Stimme zu verschließen.
Folgende Begebenheit mag das illustrieren. Es war im Jahr 2013. „Ein Schafhirte im Raum Karlsruhe musste eines Tages feststellen, dass ihm in der Nacht seine gesamte Herde von insgesamt 111 Schafen gestohlen worden war. Er meldete dies der Polizei, und diese machte sich auf die Suche nach den Tieren. Wochen später erfuhren die Behörden, dass in Köln ein Großtransport von 5000 Schafen in die Türkei geplant war. Sie informierten den Hirten und schlugen ihm vor, zu jenem Bahnhof zu kommen und herauszufinden, ob sich welche von seinen Schafen in der Herde befänden. Am entsprechenden Tag stand der Hirte mit den Polizisten auf dem Güterbahnhof Köln, und eine riesige Herde Schafe zog an ihm vorbei. In kurzen Abständen ließ nun der Hirte seinen Lockruf erschallen, und siehe da – nach und nach löste sich ein Schaf nach dem anderen aus den 5000 anderen Schafen. Als alle Tiere verladen waren, zählte man die kleine Herde, die sich um den Hirten gesammelt hatte. Es waren zum Erstaunen aller genau 111 Schafe. Selbst die Polizisten waren überwältigt und davon überzeugt, dass diese Schafe das Eigentum des Hirten sein mussten …“
Vers 6 - Nach allem, was wir in Kapitel 9 über die Pharisäer gelesen haben, erwarten wir nichts anderes: Sie hielten sich für sehend, und gerade das war ihre Blindheit (9,39-41). Die Pharisäer waren verstockt und wurden daher der Blindheit übergeben. Darum redete der Herr in Gleichnissen, damit nur die Ihn verstehen, denen es vom Vater gegeben war. Als die Jünger Ihn fragten, warum Er plötzlich so rede, antwortete Er: „Weil es euch gegeben ist, die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu erkennen, ihnen aber ist es nicht gegeben. …“ (Matthäus 13,11).
2. Der gute Hirte lässt Sein Leben für die Schafe – Verse 7-18
Verse 7-9
Was meinte Jesus damit, als Er sich als die Tür für die Schafe vorstellte? - Die Tür war der Weg, auf dem der Hirte zu den Schafen gekommen war (Vers 2), und Er selbst war die Tür, durch welche die Schafe aus dem Hof hinausgehen konnten, d.h. der Gefangenschaft des Gesetzes entkommen konnten.
Die Gesetzeslehrer, die alle geistliche Autorität an sich gerissen hatten, waren nicht Führer, sondern Verführer, nicht Diener, sondern Verderber des Volkes (Hosea 6,9) geworden. Was von denen, die vor Christus kamen, gesagt wird, gilt selbstverständlich auch für alle falschen Propheten (Matthäus 24,11), falschen Lehrer (2. Petrus 2,1) und falschen Hirten (Judas 12), die nach Ihm kommen würden. Weder die Früheren, noch die Späteren waren die Tür, durch die man zum Leben finden konnte.
Vers 8: „Aber die Schafe hörten nicht auf sie“: In Vers 5 betonte der Herr, dass die Schafe nicht auf sie hörten, weil sie Fremde waren und ihre Stimme den Schafen unbekannt war.
Vers 9: „Ich bin die Tür“: Hier ist die Tür nicht der Weg, auf dem Christus zu Seinen Schafen kam (Vers 2), sondern hier ist Er selbst die Tür für die Schafe. Indem sie Seine Stimme hören und Ihm folgen, gehen sie durch Ihn, durch die Tür, und verlassen damit das Judentum, das durch das Gesetz wie hinter einem Zaun gehalten wurde.
Es war keine Kleinigkeit, mit dem Judentum und seinen Traditionen zu brechen, da sie dabei auch vieles aufgeben mussten, das Gott einst geboten hatte. Darum ermuntert sie der gute Hirte, indem Er ihnen sagt, dass Er selbst die Tür ist; denn das bedeutet, dass es Gott nicht missfallen kann, wenn sie durch diese Tür gehen. Als sie hindurchgingen, traten sie auch ein in etwas Neues, und da erkannten sie, dass das Neue, das Gott Seinem Volk bereitet hatte, viel besser war als das Alte. Sie wurden frei vom Joch des Gesetzes und traten auf das weite Feld der Gnade.
Jeder, der durch diese Tür geht, „wird … errettet“, und damit empfängt er alles, was Gott dem Verlorenen in Seiner Gnade bereitet hat: Leben (Verse 10+28), Erkenntnis des Sohnes Gottes (Vers 14), Führung (Vers 27), Sicherheit (Verse 28+29) und am Ende Herrlichkeit (17,22+24).
„und wird ein- und ausgehen und Weide finden“: Die Schafe, die der gute Hirte rief, befreite Er vom Joch des Gesetzes (Römer 6,14; 7,6; 10,4) und führte sie zu Gott (1. Petrus 3,18). In Ihm und bei Ihm fanden sie die Freiheit der Kinder Gottes (Galater 5,1) und „Weide“, d.h. Nahrung für den inneren Menschen. In Kapitel 6 hatte Er gesagt, dass Er selbst die Nahrung für die Seinen ist. Durch Ihn können sie „eingehen“: Sie haben den freien Zugang zu Gott (Epheser 2,18; 3,12; Hebräer 10,19), den sie unter dem Alten Bund nicht gekannt hatten. Und durch Ihn können sie „ausgehen“: Sie bekommen den Auftrag und die Freiheit, auszugehen, das Zeugnis des Heils unter allen Nationen zu verkünden (20,21; Matthäus 28,18-20; Apostelgeschichte 10; 1. Petrus 2,9). - Wie töricht sind die, welche vom Neuen wieder zum Alten zurückkehren – Christen, die zum Judentum übertreten.
Die Worte dieses Verses lassen uns an Verheißungen im Alten Testament denken. Gott verhieß dem Stammvater Jakob, dass er, nachdem er das Elternhaus verlassen hatte, wieder glücklich dorthin zurückkehren würde (1. Mose 28,15). Er verhieß Seinem ganzen Volk, wenn es sich an Sein Wort halten würde: „Gesegnet wirst du sein bei deinem Eingang, und gesegnet wirst du sein bei deinem Ausgang“ (5. Mose 28,6). Und in Psalm 121,8 wird ebendieser Segen bestätigt: „Der HERR wird behüten deinen Ausgang und deinen Eingang, von nun an bis in Ewigkeit.“ In Christus erfüllt Gott diese Verheißungen; Israel wird sie dann erlangen, wenn sie endlich den erkennen, den sie durchbohrt haben (Sacharja 12,10).
Manfred Herold